Auch ich glaube, dass es wichtig ist, heute wieder an die Geschichte anzuknüpfen. Doch nicht im Sinne eines Schwärmens für eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit, und schon gar nicht als minderbegabter Kopist. Jene Form der Annäherung an Geschichte, die ich meine, ist vielleicht am ehesten in der intuitiven Sicherheit zu begreifen, welche die Menschen unbeschwert durch dieses komplexe Gebilde „Stadt“ leitet. Diese unwillkürliche Vertrautheit hat etwas mit Tradition zu tun. Und sie ist ein europäisches Phänomen: Die ungeschriebene Grammatik der europäischen Stadttradition leitet die Menschen. Hier gilt es anzuknüpfen.
Im Grunde beantwortet ein Architekturentwurf die einfache Frage, wie ein Haus aussehen soll. Interessant ist, dass es auf diese Frage fast unendlich viele Antworten gibt.
Und obwohl der Umgang der Benutzer von Architektur mit ihr intuitiv und unbeschwert ist (oder sein sollte), scheint ihre Herstellung problematisch geworden zu sein. Anscheinend kennt niemand eine einfache Antwort auf diese einfache Frage. (Schon gar nicht die Architekten.) Diese Unsicherheit hat etwas mit der Moderne zu tun, deren revolutionäre Umwälzungen neuartige Standards etablieren und eine neue Tradition hervorbringen wollten; nach den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts scheinen diese revolutionären Ansätze kompromittiert. Auf ihren Trümmern – Utopie und Alptraum zugleich – arbeiten wir heute ohne gesicherte Tradition. Es ist eine Leerstelle entstanden, die der Architekt, wenn er denn dazu befähigt ist, mit eigenen Strategien und Konzepten füllen muss.
In dieser Situation kann sich ein sinnvoller Ausdruck unserer Zeit nur einstellen, wenn wir unser Bauen wieder in ein Verhältnis zur Geschichte setzen – nicht in einem sentimentalen Sinne, sondern schöpferisch! Denn in der architektonischen Arbeit wird die Geschichte aktiv und lebendig. Seit tausenden von Jahren baut der Mensch und mit jedem Bau kommen neue Vorstellungen, Erfahrungen, Ideen und Bilder hinzu.
In meiner Architektur versuche ich diesen in der Geschichte geborgenen Vorrat an Ideen, Wissen und Erfahrungen für die Zukunft zu erschließen.
Doch diese Bilder oder konkreten historischen Architekturen verwandeln sich im Verlauf des Entwurfsprozesses. Wir transformieren sie in die Gegenwart und machen sie in der Sprache und den Mitteln unserer Zeit wirksam. Wir suchen ein Neues, das ohne das Alte nicht denkbar und möglich wäre.
Verdichtungen nach Innen
Von Alberti ist uns die Vorstellung vom Haus als einer kleinen Stadt und von der Stadt als einem großen Haus überliefert – ein Bild, das seither zum klassischen Metaphern-Repertoire architektonischen Denkens gehört. In diesem Sinne liegt auch der Schwerpunkt meines Bauens nicht auf dem singulären Haus als ästhetischem Objekt, vielmehr verstehe ich unsere Gebäude gewissermaßen als Übersetzung von Städtebau in Architektur.
Dabei ist der Ort unser Ausgangspunkt. Der Ort ist der Ausgangspunkt allen Bauens – und zwar als räumliches In-Beziehung-Setzen, als dialektische Auseinandersetzung zwischen Haus und Stadt, zwischen Urbanität und Landschaft, zwischen öffentlichem und privatem Raum. Das Verhältnis dieser Qualitäten spiegelt zugleich das Verhältnis der Menschen untereinander wider – und in diesem Sinne ist Architektur eminent politisch.
Wie also kann sich das Weiterbauen der europäischen Stadt gestalten? Sicher nicht durch Zersiedelung der Landschaft, sicher nicht durch immer neue Trabantenstädte an den Rändern der Metropolen. Sicher nicht durch Billigbau. Ich glaube, wir müssen im Gegenteil dichter bauen, urbaner bauen, Qualität bauen. Statt Siedlungen, die dem Prinzip der Repetition folgen, benötigen wir lebendige Stadtquartiere mit öffentlichen Räumen und klar definierten Orientierungspunkten. Architektur lebt von ihrem Gegenüber – einem Gegenüber, an dem man sich orientiert, das vielleicht auch irritiert –, auf das es zu reagieren gilt. Verdichtung nach innen – das muss unser Ziel sein.
Dichte bezeichnet für mich in diesem Sinne jedoch nicht bloß das Verhältnis einer Menge zu einer Volumeneinheit. Verdichtung nach innen ist zunächst ein urbanistisches Konzept zur Bewältigung von Wachstum. Aber es handelt weniger von Enge und Mangel als von Vielschichtigkeit, von Durchmischung, von Komplexität und dem Zusammentreffen von Gegensätzen auf kompaktem Raum. Aus dieser Perspektive wird Dichte zu einer Metapher für das Städtische schlechthin. Denn Stadtkultur ist immer eine Kultur der Dichte.
Für mich verwirklicht das Projekt Schwabinger Tor im besten Sinne diese Idee der verdichteten europäischen Stadt.
Hier entsteht aufs Neue ein urbanes Geflecht von Straßen, Gassen und Plätzen, die auf einfache wie gelungene Weise öffentliche mit privaten Räumen in Beziehung setzen. Das einzelne Haus verbindet sich zu einem lebendigen Quartier, das vertraut und neu zugleich ist – und so entsteht ein neues Stück Stadt für seine Bewohner und Besucher.